Eigenverantwortung und Selbstorganisation sind im agilen Kontext ein logischer Bestandteil, der sich im Praxisalltag allerdings als Stolperstein erweist. Schon weil die Forderung nach (mehr) Eigenverantwortung und Selbstorganisation erstaunlich selbstverständlich daherkommt. Während das „Private-Ich“ eigenverantwortlich denkt und selbstorganisiert handelt (in der Familie, im Verein, in der Gemeinschaft) ist das „Arbeits-Ich“ fremdbestimmt und fremdorganisiert. Ein Gegenmodell also. Kann man den Schalter einfach und ganz selbstverständlich umlegen?

Von fremdbestimmt zu selbstorganisierter Arbeit – wie kann das gelingen?

Im Lichte des Agilitäts-und-New-Work-Hype klingt Eigenverantwortung und Selbstorganisation wie ein logischer Schritt – allerdings nur oben auf der Brücke, nicht im Maschinenraum. Wer immer die an sich gute gemeinte Idee an Mitarbeitende und Kolleg*innen bringt, ist schnell ernüchtert: Widerstand statt Jubelstürme. „Soll ich jetzt alles selbst machen?“ „Soll ich jetzt noch die Verantwortung tragen?“ sind typische Reaktionen und mehrheitlich repräsentativ.

Wie und wodurch gestaltet sich der Shift von fremdbestimmt und fremdorganisiert hin zu selbstbestimmt und selbstorganisiert? Gehen wir von der Brücke in den Maschinenraum und betrachten die Frage zunächst durch die Brille der Naturwissenschaft.

Selbstorganisation in der Natur.

Laut Brockhaus ist Selbstorganisation „das spontane Entstehen von (neuen) räumlichen und zeitlichen Strukturen in dynamischen Systemen, das auf das kooperative Wirken von Teilsystemen zurückgeht“.¹ Selbstorganisierte Systeme können nicht gestaltet werden, sie gestalten sich durch Interaktion und Zusammenwirken.

Schwärmt beispielweise eine Ameisenkolonie aus, um Futterquellen zu suchen, erforscht sie die Umgebung und verwertet, bis eine Futterquelle gefunden ist, eine Vielzahl an Informationen. Sobald der Schwarm die Futterquelle kennt, könnte man sich nun auf die Ausbeutung beschränken, tatsächlich bleibt die Kolonie weiterhin aktiv. Einige der Arbeiterinnen beginnen die Futterquelle auszubeuten, andere erforschen fortlaufend die Umgebung. Die Kolonie hat es mit einem dynamischen Umfeld zu tun, sowohl Gefahren als auch eine ergiebigere Futterquelle sind nicht auszuschließen. Die Informationen werden fortwährend verwertet, indem die Schwärme kommunizieren, agieren und reagieren. Aus der Vielzahl lokal beschränkter Informationen und Abstimmungen entsteht eine weitreichende Ordnung. (Quelle)

Das Grundkonzept besteht aus vier Komponenten:

  • positives Feedback,
  • negatives Feedback,
  • eine Vielzahl an Interaktion,
  • und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Verwertung und Erforschung von Information. (Quelle)

Sich selbst organisierende Systeme bestehen aus einzelnen, autonom agierenden Einheiten, die sich abstimmen und synchronisieren.

Selbstorganisation stellt die Kommunikationsroutine auf den Kopf!

Mit anderen Worten: Um gut organisiert zu sein und sich gleichzeitig an eine dynamische Umwelt optimal anzupassen, sind gelingende Kommunikation und Interaktion grundlegende Prinzipien.

Was für die Ameise selbstverständlich ist, stellt Organisationen vor einen enormen Entwicklungsprozess: Kommunikation, Feedback und die Erforschung sowie Verwertung von Informationen sind in Top-down-Strukturen kein lebendiges Konstrukt. Die Kommunikationsroutine schreibt die Wege fest, schließt Informationen in (Fach-) Abteilungen ein oder Beteiligte, die über wertvolles Wissen von Nutzer*innen verfügen, vom Kommunikationsprozess gänzlich aus. Wie erfolgreich wären Ameisen, wenn das Wissen bestimmter Trupps keine Beachtung fände und wenige darüber abstimmen, wer welche Informationen erhält?

Die Struktur der Kommunikationskontrolle ist der erste gewichtige Stolperstein auf dem Weg zur Selbstorganisation.

Offene Kommunikation ist Führungsaufgabe!

Eigenverantwortung und Selbstorganisation brauchen Zeit und einen Nährboden auf dem sie wachsen. Eine barrierefreie Kommunikation und Interaktionsstrukturen, die Informationen fortlaufend erforschen und verwerten, sind konstitutive Bausteine. Diese Struktur zum Leben zu bringen, obliegt Führungskräften, denn wer, außer New Leader, könnte den Kommunikationsprozess grundlegend ändern!? Der Schlüsselfaktor Kommunikation ist jedoch nur eine Schraube, die im Maschinenraum zu justieren ist!

Im Praxisalltag gibt es zahlreiche Indizien dafür, dass Agile oder New Leading im Gesamtkonstrukt unterschätzt wird und Vorreiter sowie Vorbilder fehlen. Agilität ist Chefsache! Mit der Themenreihe möchte ich Denkanstöße geben, das Führungshandeln im Alltag konstruktiv-kritisch zu reflektieren und aus Reflexionen zu lernen. Im weiteren Verlauf werden Stolpersteine und die Zugangsvoraussetzungen zur Selbstorganisation beleuchtet.

 

Dieser Text beinhaltet Gedanken und Impulse aus diesen Quellen:

¹Brockhaus.de

Geramanis, O. / Hutmacher, S. (Hrsg.). (2020). Der Mensch in der Selbstorganisation: Kooperationskonzepte für eine dynamische Arbeitswelt. Springer Fachmedien Wiesbaden.

Hamann, H. (2019). Schwarmintelligenz. Springer Berlin / Heidelberg. https://public.e-bookcentral.proquest.com/choice/publicfullrecord.aspx?p=5921389

Hofert, S. (2018). Das agile Mindset. Springer Fachmedien Wiesbaden.