Agilität und New Work zwischen Hype und Realität.

Immer dann, wenn es um Wandel und Zukunft der Arbeit geht, ist der Ruf nach Agilität im Spiel, also praktisch immer. Der heimliche Wunsch, hip, flink und wendig wie ein start-up zu sein. Vom Wettbewerbsvorteil bis zum „Überlebenselixier“ ist die Rede, fast mit heilsbringender Wirkung. Agilität und agiles Arbeiten ist scheinbar die Antwort auf Innovationsdruck, Wandlungsfähigkeit und Zukunftssicherung. In schwerfälligen Strukturen ein elektrisierender Gedanke: Ist Agiles Arbeiten das Arbeitsmodell, das Unternehmen in die Zukunft katapultiert.

Dieser Blogbeitrag beleuchtet Arbeit aus zwei unterschiedlichen Blickrichtungen: Einmal Arbeit wie wir sie kennen und einmal durch die Brille neuer und agiler Arbeit. Was bewirken Agilität und New Work im Vergleich zu einem klassisch-hierarchischen Unternehmen? Kern der Betrachtungsweise ist die These, dass Agilität und New Work kein Hype sondern verdammt sinnvoll ist. Einem evolutionären Kreislauf folgend, wie ihn Frederic Laloux* beschreibt. 

Agile Organisationen.

Wer immer Agile (oder nach neuen Prinzipien arbeitende) Organisationen kennenlernt, stellt unmittelbar zwei Dinge fest:

  • Sie haben Zulauf, nicht Fachkräftemangel
  • Die Menschen sind überdurchschnittlich -intrinsisch- motiviert.

Diese beiden „Phänomene“ sind spür- und greifbar als Arbeitsfreude, Innovationskraft, Fortschritt und Arbeitgeberattraktivität. Ein atmosphärischer Wow-Effekt, der fasziniert. Wie in einer anderen Welt.

Diese Strahlkraft ist derart wirksam, dass sie von hohen Azubi-Raten und qualifizierten Bewerbungen profitieren, dh. Menschen suchen bewusst ein solches Arbeitsumfeld. Ein Erfolgsbaustein, denn es potenziert die Progression und Prosperität.

Positive Energien und glückliche Menschen machen erfolgreich. Obwohl dieselben Menschen die gleiche Arbeit machen, ist alles anders.

Traditionell-hierarchische Organisationen.

In traditionellen Organisationen stellt sich die Alltagsrealität oftmals anders dar. Druck, Freudlosigkeit und Erschöpfung sind greif- und spürbar. Ein Teil von mir, die Personal- und Organisationsentwicklerin der alten Schule, kennt diese Schwere und die Freudlosigkeit, die den Arbeitsalltag vieler Menschen begleitet, allzu gut. Quer durch alle Branchen. Ich hatte Kunden, bei denen die Schwere und Freudlosigkeit schon an der Eingangstür greif- und spürbar war. Wie Blei.

Die Folgen sind fehlende Motivation, hoher Krankenstand und Fluktuation. Ein großer Teil der Energie fließt in Motivations- und Recruitingmaßnahmen. Um eine Stelle neu zu besetzen, dauert es bis zu 200 Tage, je nach Branche noch mehr. Die Motivation sinkt noch tiefer – Druck, Freudlosigkeit und Erschöpfung steigen. Ein Teufelskreis.

Wir glauben, Arbeit ist „eben so“. Mitarbeitende sind ein Kostenfaktor und machen Dienst nach Vorschrift.

Was genau macht die Unterschiede in der Alltagsrealität?

Nun stellt sich die Frage, worin genau die Unterschiede liegen. Bleiben wir bei den relevanten Aspekten Motivation und Fluktuation bzw. Fachkräftemangel.

Agile Organisationen haben längst erkannt, dass einzelne an der Unternehmensspitze mit der Dynamik und Komplexität längst nicht mehr Schritt halten können. Sie wissen, dass Ideenreichtum, Einsatzfreude, Gestaltungswille und Eigenverantwortung ihre Währung ist, um am Puls der Zeit zu agieren und die Herausforderungen bewältigen zu können.

Deswegen kultivieren sie ein Arbeitsumfeld, in dem jede*r eine wichtige Rolle spielt und wertvolle Beiträge liefert. Agile Organisation bündeln Wissen, Kreativität und Tatendrang und stärken den Menschen, anstatt ihn zu schwächen. Das motiviert Menschen, weil es positive Gefühle weckt. Teilhabe, Arbeitsstolz, Wertschätzung bilden den Nährboden und so wachsen die Menschen. Wachstum ist ein natürlicher Prozess. Niemand muss der Natur vorrechnen, wie und wodurch sie wachsen kann, sie tut es einfach. Wenn die Bedingungen stimmen, wächst sie aus sich heraus. Das gilt auch für uns Menschen: Wenn die Trigger stimmen lernen und wachsen wir. Leben ist lernen und lernen ist Leben.

Traditionelle Organisationen pflegen hingegen ein mechanistisches Weltbild. Wirtschaft als rationales System, streng effizienzgetrieben, der Mensch – die Arbeitskraft – eine betriebswirtschaftliche Größe. Das Paradigma, alles planen, steuern und berechnen zu können, mündet in Aufgabengliederungspläne und Prozessoptimierungen sowie in Jobs, in denen weder selbst gedacht noch kreativ agiert werden soll. Selbst Motivation ist steuerbar, von außen. Formeln wie “Plan- und Umsatzzahlen + Bonus = Motivation + überragende Performance” sollen motivieren, das Outcome gewinnbringend zu gestalten und den Erfolg sowie das Wachstum zu sichern. Wer Lehrjahre hinter sich hat, hat „ausgelernt“, wenn es Weiterbildung gibt, deckt sie einen zuvor diagnostizierten „Bedarf“. Das ökonomische Prinzip sichert den Lebensraum einer Organisation nach allen Seiten ab.

Organisationen suchen Mitarbeitende – und es kommen Menschen.

Die Denkmuster sind der gravierende Unterschied. Während Organisationen, die das Traditionelle pflegen, nach wie vor davon ausgehen, der Mensch sei ein Rad im Getriebe, sehen Agile Organisationen den Menschen als Träger von Skills und Potenzialen, die ihre Organisation enorm bereichern und den Zielen nahebringt.

Da der Mensch kein „Rad im Getriebe“ ist, sondern ein Feuerwerk an Ideenreichtum, Gestaltungswille und Tatkraft, zieht er die Organisation vor, die ihn als solchen schätzt. Er will wachsen, sich entwickeln und wertvoller Teil eines großen Ganzen sein.

Das Erfolgsgeheimnis ist also keines. Die neue Arbeitswelt verbindet zwei lose Enden: Menschen, die wirksam sein wollen und organisatorisches Denken und Handeln, das exakt diese Potenziale und Skills schätzt, um wettbewerbs- und zukunftsfest zu sein.

Agil und neu – so einfach? 

Dem gesunden Menschenverstand folgend, ist man geneigt zu jubilieren. Das ist die Lösung. Prima! Auf geht´s! Worauf warten wir?

Obwohl es einfach und logisch scheint, sind wir in der Realität weit davon entfernt, diese Brücke zu schlagen. Und obwohl eine Pandemie Dinge ermöglicht hat, die zuvor undenkbar waren und für zahlreiche Organisationen eine neue Ausgangssituation schaffen konnte: weit entfernt.

Agile und neue Arbeit ist Hype, aber nicht Realität. Warum?

Das Paradigma des Industriezeitalters hat evolutionäre Prinzipien außer Kraft gesetzt. Die Überzeugung, alles planen, berechnen und steuern zu können, hat dazu geführt, dass Kontrolle und Misstrauen das Potenzial der Menschen und den Arbeitsalltag in den Würgegriff genommen haben. Ständig wird kontrolliert, überwacht, bevormundet, sogar entmündigt. Ein System, das nach Zahlen definiert, wer „gut“ ist und wer „schlecht“. Nicht rationale Aspekte wie Mitarbeiterzufriedenheit oder psychosoziales Wohlbefinden haben zwar Einzug in die Managementliteratur gehalten, in der Realität stehen sie nach wie vor auf der Höhe von Räucherstäbchen.

Diese Denkschleife gilt es zu verlassen! Potenziale können sich so nicht entfalten und wirksam sein.

Die Zukunft einer Organisation ruht nicht im rationalen System, nicht in der Technik und nicht in der Digitalisierung, sondern im Menschen. Die Arbeitswelt braucht im 21. Jahrhundert ein fruchtbares Miteinander dh. ein Arbeitsumfeld, das in neue Zeiten und zu den Menschen passt.

Menschen machen Unternehmen. Der Masterplan ist eine neue Beziehungskultur.

Das Potenzial ist unermesslich.

Die Dimension die in der „Ressource Mensch“ verborgen liegt, lässt sich aus zwei Richtungen erahnen.  

Bleiben wir zunächst bei harten Fakten. Die Alltagsrealität einer traditionell geprägten Organisation ist keine subjektive Empfindung, sondern rational belegt: 103 Mrd. Euro volkswirtschaftlicher Schaden im Jahr 2018. Jahr für Jahr führt uns der Gallup Engagement Index – der Gradmesser für Arbeitsmotivation und -zufriedenheit – den Effekt und das Ausmaß vor Augen: 15% der Mitarbeitenden sind mit echtem Engagement dabei; 71% Prozent erledigen Dienst nach Vorschrift, 14% haben innerlich gekündigt und wirken potenziell destruktiv.¹

Mit anderen Worten: Kontrolle, Misstrauen, Freudlosigkeit und Erschöpfung sind extrem teuer!

Wechseln wir die Blick- und Denkrichtung: Stellen wir uns vor, viele Organisationen verlassen die Denkschleife der alten Arbeitswelt und entfesseln das Potenzial, das Menschen in sich tragen. Stellen wir uns vor, die Zahl der Organisationen, die Arbeitsfreude, Kreativität und Gestaltungswille entdecken und aus dem vollen Potential schöpfen, steigt rasant.

Es trägt die lange Welle der Konjunktur.

Die langen Wellen der Konjunktur, nach dem Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratieff benannt, kennzeichnen einen Innovationsschub – meist ausgelöst durch eine technische Errungenschaft, die in die Gesellschaft hineindiffundiert und gleichzeitig einen Bedarf der Gesellschaft deckt. Der Kondratieff-Zyklus ist eine Theorie, die Wechselwirkungen zwischen technologischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Entwicklungen darlegt und langfristige Prognosen ermöglicht.²

Kondratieff. Die langen Wellen der Konjunktur.

Die langen Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung. © Bildquelle www.kondratieff.net

 

Der 6. Zyklus steht im Zeichen der ganzheitlichen Gesundheit von Körper und Seele.

„Ohne das Bemühen um eine Gesundung der Menschen, genauer: des Innenlebens der Menschen, wird es nicht gelingen die soziale Unordnung nachhaltig abzubauen und die Wirtschaft auf ein zukunftsorientiertes Fundament zu stellen.“

Schreibt Leo A. Nefiodow, der das erste Werk weltweit schrieb, das den sechsten Kondratieff identifizierte.³ Ganzheitliche Gesundheit birgt die größten Produktivitätsreserven. Sie ist Energie und Grundlage für Lern- und Einsatzbereitschaft, Aktivität, Ausdauer, Leistung und Kreativität. Diese immateriell motivierte Antriebsenergie ist derart fundamental, dass sie die lange Welle der Konjunktur trägt.

Mit anderen Worten: Alle zukunftsträchtigen Potenziale stecken im Menschen.

Closing the loop. Agilität und New Work ist kein Hype.

Nicht Technik und Digitalisierung sind die Quelle für Wachstum und Produktivitätsfortschritt, sondern der Mensch; seine hochqualifizierten Skills und sein Antrieb. Dass sie den langen Zyklus der Weltwirtschaft tragen (können!), zeigt die Dimension.

Dieses Potenzial ist weder mit Appellen noch über Kontrolle und Macht zu erreichen. Erfolgsfaktoren sind soziale Interaktion, Verbundenheit, Teilhabe und symbiotische Arbeitsweisen. Der Schlüssel liegt in der Beziehungskultur, die in direkter Korrelation mit psychosozialer Gesundheit steht.

Das ist neue Arbeit: Die Kraft der Gemeinschaft und ein lebendiges Konstrukt, in dem Menschen ihr Potenzial entfalten. Auf dieses Leistungspotenzial stützt die Zukunft einer Organisation. Es schlummert in jeder Organisation. Wie ein schlafender Tiger.

Plausibel? Gesunder Menschverstand? Sinnvoll?

Agilität und New Work ist kein Hype. Es ist die unprätentiöse Antwort auf die Herausforderungen der Zeit.

 

Informations-/Quellenangabe:

Dieser Atikel ist ein Beitrag zur Blogparade #NewWorknow 2022. Weitere Beiträge und Informationen zur Blogparade bei Digital.Now by valantic

*Frederic Laloux. Reinventing Organizations

¹ Engagement Index Deutschland 2018. Abgerufen von Gallup GmbH Deutschland https://www.gallup.de/183104/german-engagement-index.aspx [25. Juni 2019]

² Gruber, J. (2015) Kondratieff‐Zyklen. Bisherige Kondratieff‐Zyklen: viele positive und einige negative Effekte, und ein hoffnungsvoller Kurzausblick in den 7. Kondratieff‐ Zyklus, Deutsche Vereinigung für Raumenergie DVR (Hrsg.)

³ Bild, Zitat und Text: https://www.kondratieff.net/the-sixth-kondratieff